Ursberg (KNA)Man kann es kaum glauben: „Plötzlich packt jemand meinen Rollstuhl und schiebt mich einfach los“, sagt Marcel Schäfer. „Das ist mir mehr als einmal passiert“, erzählt der 38-Jährige. „Dass mich jemand einfach über die Straße geschoben hat.“ Das sei zwar nett gemeint. „Aber es ist übergriffig.“ Und obendrein gefährlich: „Wenn mein Rollstuhl sich auf einmal bewegt, ohne dass ich das will, hau ich natürlich automatisch die Bremsen rein. Dadurch läuft die Person hinter mir auf mich auf und ich selbst flieg je nach Schwung heraus.“
Um solchen Situationen vorzubeugen, macht Schäfer bei „Barrierebrecher“ mit. Das ist ein Internet-Projekt, bei dem Menschen mit Behinderung in kurzen Videos über ihre Einschränkungen und ihre Wünsche an die Allgemeinheit sprechen. Zu sehen sind die Clips auf Instagram, Tiktok und Youtube; jeden Donnerstag gibt’s einen neuen. Das Ziel: die Mehrheitsgesellschaft über die Bandbreite von Behinderungen informieren und für den Umgang damit sensibilisieren. So erklärt Schäfer, er brauche den Rollstuhl wegen seines offenen Rückens. Und weiter: „Ich wünsche mir von meinen Mitmenschen, dass sie fragen, bevor sie mir helfen.“
„Barrierebrecher“ gibt es seit einem Jahr
„Barrierebrecher“ hat Schäfer zusammen mit Bianca Hammerschmidt (27), Sebastian Teichner (27), Helmut Wieser (42) und Michael Stadler (35) gegründet. Das Quintett kümmert sich ums Filmen, Schneiden und Untertiteln der Beiträge sowie um die Moderation der im Netz entstehenden Debatten dazu. Stadler arbeitet als Sozialwirt beim Dominikus-Ringeisen-Werk. Die katholische Einrichtung mit Sitz im bayerisch-schwäbischen Ursberg ist einer der größten Sozialträger Süddeutschlands und besonders in der Arbeit mit behinderten Menschen engagiert, darunter Schäfer, Hammerschmidt, Teichner und Wieser.
Ihr Projekt „Barrierebrecher“ läuft nun seit einem Jahr – mit riesigem Erfolg: Insgesamt haben die Kanäle an die 65.000 Follower. Einzelne Beiträge erzielten schon im sechsstelligen Bereich Reaktionen, also etwa Likes und Kommentare.
„Mehr Toleranz – weniger Ungeduld – ja, das wäre schön!“, das steht zum Beispiel als Wortmeldung unter dem Beitrag von Helmut Wieser. Er sagt in seinem Video: „Meine Behinderung ist eine Lernbehinderung. Und ich würde mir wünschen: mehr Toleranz, indem die Leute mehr Geduld haben.“ Wie jede und jeder andere antwortet Wieser in dem Clip auf die Fragen: „Was ist deine Behinderung und was wünscht du dir von deinen Mitmenschen?“
Behinderung, behindert – diese Vokabeln sind nicht unumstritten. „Ich finde eigentlich ‚beeinträchtigt‘ besser, das klingt abgemildert“, sagt Wieser. Hauptsache, man spreche nicht von behinderten Menschen einer- und von „normalen“ Leuten andererseits. „Das tut weh.“ Wiesers Mitstreiter Schäfer fügt an: „Ich bin mit ‚Behinderung‘ fein. Ich sage auch ‚Handicap‘.“ Diesen Begriff lehnten wiederum andere Betroffene ab, wirft Michael Stadler ein. „Die meinen, sie hätten doch nichts mit Golf zu tun.“ Manche Eltern sprächen derweil von ihrem „besonderen“ Kind. Allein: „Welches Kind ist nicht besonders?“
Umgang mit dem Begriff „Behinderung“
Die Debatte um die Wortwahl flamme immer wieder in den Kommentaren auf. „Da gibt es viele Meinungen. Ich finde es gut, dass wir ein Forum für Diskussionen bieten und dort verschiedene Standpunkte kennenlernen und aushalten.“ Sogar die Bundeszentrale für politische Bildung habe sich dazu gemeldet; man sei nun im Austausch über den künftigen Umgang mit dem Begriff „Behinderung“.
Eine weitere Folge des Projekts: „Du bist ums Zehnfache selbstbewusster als vor einem Jahr“, sagt Stadler an Schäfer gerichtet. Der lächelt und nickt. Zudem hätten die „Barrierebrecher“ neue Freunde gefunden. „Vorher kannten wir uns nur vom Sehen“, sagt Schäfer über sich und Helmut Wieser. „Jetzt sind wir so“, ergänzt er und kreuzt die Finger.
Schäfer fügt an, die „Barrierebrecher“-Arbeit habe ihn auch demütig gemacht. Viele Behinderungen seien stärker als seine. „Ich kann meinen Kopf und meine Arme bewegen und herumfahren. Andere sind ans Bett gefesselt.“ Manche Long-Covid-Patienten etwa. „So jemanden würde ich gern noch vor die Kamera holen.“