Tel Aviv/Washington (dpa) – Israel will vor dem Hintergrund ernster Drohungen aus dem Iran seine Luftverteidigung verstärken. Nach einer Lagebeurteilung sei beschlossen worden, die Personalstärke zu erhöhen und Reservisten der Raketenabwehr einzuberufen, teilte das israelische Militär mit. Gründe dafür nannte die Armee nicht explizit.
Israelische Medien berichteten aber, Hintergrund seien die Drohungen aus Teheran. Nach dem mutmaßlich israelischen Luftangriff auf ein Gebäude der iranischen Botschaft in Syriens Hauptstadt Damaskus mit mehreren Toten hatte der iranische Präsident Ebrahim Raisi gesagt, die Attacke werde «nicht unbeantwortet bleiben». Auch Staatsoberhaupt Ajatollah Ali Chamenei drohte mit Vergeltung.
Iran droht mit Vergeltung
Bei dem Angriff am Montag waren zwei Brigadegeneräle und fünf weitere Mitglieder der mächtigen iranischen Revolutionsgarden getötet worden. Zudem kamen nach Angaben der iranischen Nachrichtenagentur Tasnim sechs syrische Staatsbürger ums Leben. Die Revolutionsgarden sind Irans Elitestreitmacht, sie werden mächtiger eingeschätzt als die konventionellen Streitkräfte des Landes. Das iranische Außenministerium geht davon aus, dass der Erzfeind Israel den Angriff ausgeführt hat. Auch nach Einschätzung der US-Regierung war Israel dafür verantwortlich. Von israelischer Seite wurde der Vorfall nicht kommentiert.
Netanjahu warnt vor Folgen eines Angriffs aus dem Iran
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat für den Fall eines Angriffs des Irans auf sein Land mit Konsequenzen gedroht. «Seit Jahren agiert der Iran sowohl direkt als auch über seine Stellvertreter gegen uns; deshalb geht Israel gegen den Iran und seine Stellvertreter vor, defensiv und offensiv», sagte Netanjahu zu Beginn einer Sitzung des israelischen Sicherheitskabinetts, wie sein Büro mitteilte.
«Wir werden wissen, wie wir uns zu verteidigen haben, und wir werden nach dem einfachen Prinzip handeln: Wer immer uns schadet oder plant, uns zu schaden, dem werden wir auch schaden», sagte Netanjahu demnach.
Anschläge auch auf israelische Minister vereitelt
Israels Inlandsgeheimdienst hat eigenen Angaben zufolge Anschlagspläne auf den rechtsextremen Polizeiminister Itamar Ben-Gvir, den internationalen Flughafen und weitere Ziele in Israel vereitelt. Sieben arabische Israelis und vier Palästinenser aus dem Westjordanland seien in dem Zusammenhang festgenommen worden, teilte der Schin Bet mit.
Demnach hat die Gruppe auch Angriffe auf das Regierungsgebäude in Jerusalem und Stützpunkte der Armee geplant. Zudem sei ein Anschlag auf eine israelische Siedlung im Westjordanland vorbereitet worden, in der auch Ben-Gvir lebt. Die Gruppe soll die Absicht gehabt haben, den Minister dabei mit einer Panzerabwehrrakete zu töten. Sie hat nach Angaben des Inlandsgeheimdienstes auch versucht, Soldaten zu entführen.
Weiterhin soll die Zelle den Bau einer Fabrik geplant haben, um Waffen herzustellen und dort auch zu trainieren. Mindestens einer der Festgenommen stand demnach in Kontakt mit einem Hamas-Mitglied im Gazastreifen. Gegen zehn Verdächtige sei Anklage in Beerscheva erhoben worden.
USA nach Tod von Helfern «frustriert»
Unterdessen sieht sich Israel weiter mit den Folgen seines tödlichen Luftangriffs auf ausländische Helfer der Organisation World Center Kitchen im umkämpften Gazastreifen konfrontiert. Israels wichtigster Verbündete USA zeigte sich über das Vorgehen der israelischen Armee offen frustriert. Der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates der USA, John Kirby, sagte, der Vorfall markiere «den Höhepunkt ähnlicher Ereignisse» und US-Präsident Joe Biden habe «seine Empörung, seine Frustration» darüber zum Ausdruck gebracht. Es sei nicht das erste Mal, dass so etwas passiert sei, so Kirby. «Und ja, wir sind darüber frustriert.»
Sieben Mitarbeiter der Hilfsorganisation World Central Kitchen waren am Montagabend im Gazastreifen durch einen Luftangriff des israelischen Militärs getötet worden. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und die Armee sprachen von einem unabsichtlichen Treffer und einem schweren Fehler. Biden machte Israel daraufhin schwere Vorhaltungen. «Das ist kein Einzelfall», beklagte Biden in einer schriftlichen Stellungnahme. «Dieser Konflikt ist einer der schlimmsten in jüngerer Zeit, was die Zahl der getöteten Mitarbeiter von Hilfsorganisationen angeht.»
Kirby machte mit Blick auf die Israelis deutlich: «Wir unterstützen nach wie vor ihr Recht, sich zu verteidigen. Und das werden wir auch weiterhin tun.» Dennoch sei die US-Regierung besorgt über das Vorgehen Israels. Jeden Tag spreche man über die Art und Weise der Kriegsführung.
Austin zeigt sich empört
US-Verteidigungsminister Lloyd Austin äußerte sich im Gespräch mit seinem israelischen Amtskollegen Empörung über den tödlichen Angriff Israels auf Helfer im Gazastreifen.
Austin habe bei dem Telefonat mit Joav Galant die Notwendigkeit betont, «sofortige Schritte zum Schutz humanitärer Helfer und palästinensischer Zivilisten in Gaza zu unternehmen, nach dem mehrfachen Scheitern der Koordinierung mit ausländischen Hilfsorganisationen», teilte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, Pat Ryder, mit.
600 Anwälte fordern Stopp britischer Waffenlieferungen
Die britische Regierung steht nach dem tödlichen Angriff auf ausländische Helfer unter Druck, Waffenlieferungen an Israel einzustellen. In einem offenen Brief an Premierminister Rishi Sunak warnten mehr als 600 Justizexpertinnen und -experten, Großbritannien riskiere ansonsten den Bruch international bindender Gesetze. Bei dem Angriff waren sieben Ausländer getötet worden, unter ihnen drei Briten.
Angesichts der katastrophalen Lage im Gazastreifen und der Einschätzung des Internationalen Gerichtshofs, dass eine «plausible Gefahr eines Völkermords» bestehe, sei Großbritannien verpflichtet, Waffenverkäufe an das Land auszusetzen, hieß es in dem Schreiben. Unter den Unterzeichnern waren auch ehemalige Richterinnen und Richter des Obersten Gerichts.
Der außenpolitische Sprecher der Oppositionspartei Labour, David Lammy, forderte die Regierung auf, alle rechtlichen Ratschläge zu veröffentlichen, die sie zu der Frage erhalten habe, ob Israel gegen internationales Recht verstoßen habe.
«Das Gesetz ist eindeutig», sagte Lammy. «Britische Waffenlizenzen können nicht erteilt werden, wenn die klare Gefahr besteht, dass die Gegenstände dazu verwendet werden könnten, einen schweren Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht zu begehen oder zu erleichtern.»
USA halten an Plänen für temporären Hafen vor Gaza fest
Trotz des Todes der Helfer halten die USA an den Plänen für einen temporären Hafen im Meer vor dem Gazastreifen fest. Der Vorfall habe keinen Einfluss auf die Bemühungen, den Pier zu errichten, um Hilfsgüter über den Seeweg nach Gaza zu liefern, sagte der Sprecher des US-Außenministeriums, Matthew Miller. Man wolle mit dem Vorhaben so schnell wie möglich vorankommen.
Unterdessen wurden sechs der sieben Leichen der Helfer nach Ägypten überführt. Das berichtete der staatsnahe Fernsehsender Al-Kahira News. Krankenwagen hätten die Leichen über den Übergang Rafah nach Ägypten gebracht. Die getöteten Helfer stammen aus Großbritannien, Polen und Australien, eines der Opfer hatte zudem die kanadische und amerikanische Staatsbürgerschaft. Ihre Leichen sollten in die jeweiligen Heimatländer überführt werden. Die Leiche des palästinensischen Fahrers wurde an dessen Familie zur Bestattung in Gaza übergeben.
US-Regierung: Zweistaatenlösung nur durch Verhandlungen
Washington hält unterdessen weiter an einer Verhandlungslösung für einen unabhängigen Palästinenserstaat fest. Das erklärte Außenamtssprecher Miller in Washington. Die palästinensische UN-Mission hatte am Vortag mitgeteilt, sich erneut um eine Vollmitgliedschaft bei den Vereinten Nationen bemühen zu wollen – 2011 war dieses Anliegen gescheitert. Die Veto-Macht USA und andere wollten damals, dass die Palästinenser zuvor mit Israel Frieden schließen. Im November 2012 räumten die Vereinten Nationen den Palästinensern gegen den Widerstand der USA einen Beobachterstatus ein.
Von 193 UN-Mitgliedsstaaten haben bisher 139 Palästina als unabhängigen Staat anerkannt. Die USA und Deutschland gehören nicht dazu. In einem Brief an UN-Generalsekretär António Guterres bat der palästinensische UN-Botschafter Riad Mansur nun darum, dem Sicherheitsrat den Antrag von 2011 erneut vorzulegen. Auf die Frage, ob die USA dieses Mal ein Veto einlegen würden, sagte Miller: «Ich spekuliere nicht darüber, was in Zukunft passieren könnte.»
Gleichzeitig betonte er, die US-Regierung habe immer deutlich gemacht, dass sie zwar die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates mit Sicherheitsgarantien für Israel unterstütze. Dies müsse jedoch durch direkte Verhandlungen zwischen den betroffenen Parteien geschehen, «und nicht bei den Vereinten Nationen».
Die islamistische Hamas im Gazastreifen und Israels Ministerpräsident Netanjahu lehnen eine Zweistaatenlösung ab. Damit ist gemeint, dass ein unabhängiger, demokratischer und friedlicher Palästinenserstaat an der Seite von Israel existiert.
Israel stoppt Urlaube in allen Kampfeinheiten
Angesichts der angespannten Sicherheitslage stoppt Israel Urlaube in allen Kampfeinheiten zeitweilig. «Die israelische Armee ist im Krieg und die Aufstellung der Streitkräfte wird ständig entsprechend der Notwendigkeiten angepasst», hieß es in einer Mitteilung der Armee. Die Entscheidung sei in Einklang mit einer Lagebewertung getroffen worden. Ob sich dies auf die neuen Spannungen mit dem Iran oder die Lage im Gaza-Krieg bezog, ist unklar.
Israels Armee hatte am Mittwochabend bereits mitgeteilt, sie wolle Reservisten der Raketenabwehr mobilisieren. Nach einer Lagebeurteilung sei beschlossen worden, die Personalstärke zu erhöhen und Reservisten für die Luftverteidigung einzuberufen. Die Gründe dafür nannte die Armee nicht explizit. Israelische Medien berichteten, Hintergrund seien Drohungen aus Teheran.
64.000 Palästinenser mit Zweitpass haben Gaza verlassen
Seit Beginn des Gaza-Kriegs vor einem halben Jahr haben mehr als 64.000 Palästinenser mit Zweitpass das abgeriegelte Küstengebiet verlassen. Das berichtete der staatsnahe ägyptische Fernsehsender Al-Kahira News.
Das ist nur ein sehr kleiner Teil der fast 1,9 Millionen Menschen, die nach UN-Angaben durch Kämpfe innerhalb des Gazastreifens vertrieben wurden. Dies sind mehr als 80 Prozent der Bevölkerung.
Quellen: Mit Material der dpa.