St. Petersburg (dpa) – Russlands Präsident Wladimir Putin hat ein positives Fazit der Wirtschaftsentwicklung nach mehr als einem Jahr Krieg gezogen. «Die Strategie, die Staat und Business gewählt haben, hat funktioniert», sagte der Kremlchef bei seinem Auftritt auf dem Petersburger Wirtschaftsforum – auch wenn das zweite Quartal des Vorjahres wegen der Umstellungen besonders schwer gewesen sei.
Seiner Prognose nach beläuft sich das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr auf 1,5 bis 2 Prozent, die Inflation sei niedriger als innerhalb der Eurozone. Putin begründete daneben auch das Defizit beim föderalen Haushalt. Das Minus sei auf vorgezogene staatliche Infrastrukturausgaben zurückzuführen. Daneben räumte der Kremlchef aber auch höhere Ausgaben im Rüstungssektor ein.
Den Exodus westlicher Unternehmen habe Russland gut überstanden. Russische Firmen hätten die frei gewordenen Nischen schnell ausgefüllt, sagte Putin. Die Staatspolitik richte sich nun auf den Schutz der einheimischen Wirtschaft. Er versicherte aber zugleich, dass Russland seine Türen für ausländische Investoren nicht verschließen werde.
Nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine haben westliche Staaten Sanktionen gegen Russland eingeführt. Auch viele ausländische Unternehmen haben nach dem Kriegsausbruch Russland verlassen.
Putin will Mindestlohn um 18,5 Prozent anheben
Putin kündigte die Anhebung des russischen Mindestlohns um 18,5 Prozent an. «Am 1. Januar 2024 nehmen wir noch eine Anhebung vor – und 18,5 Prozent (…), was deutlich über dem Tempo der Inflation und den steigenden Gehältern insgesamt liegt», sagte der Kremlchef. Die Inflation liegt in Russland aktuell bei 2,9 Prozent.
Darüber hinaus versprach Putin, Müttern Kindergeld bis zum Alter von 1,5 Jahren zu zahlen – unabhängig davon, ob die Mutter in der Zwischenzeit wieder zur Arbeit gegangen oder zu Hause geblieben sei. Die sozialen Versprechen dienen auch dazu, die eigene Bevölkerung zu beruhigen. Die gewaltigen Krisen, die Teile der russischen Wirtschaft – allen voran etwa die Automobilindustrie – seit Kriegsbeginn durchleben, erwähnt Putin dabei in der Regel kaum oder gar nicht.
Putin beschimpft Selenskyj
Den ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj beschimpfte Putin. «Ich habe viele jüdische Freunde, seit meiner Kindheit. Sie sagen: „Selenskyj ist kein Jude. Das ist eine Schande für das jüdische Volk“», so Putin. Aus dem Publikum, wo unter anderem viele kremltreue Politiker sowie die Chefs mehrerer völkerrechtswidrig annektierter ukrainischer Gebiete saßen, erntete er für diese Aussage Beifall.
Moskau rechtfertigt seinen Angriffskrieg gegen das Nachbarland immer wieder mit der Propaganda-Behauptung, man müsse die Ukraine von angeblichen «Neonazis» befreien. Solche Aussagen sorgen international auch deshalb für großes Entsetzen, weil Selenskyj jüdischer Abstammung ist. Außerdem sind unter den vielen Tausend Opfern russischer Angriffe in der Ukraine nachgewiesenermaßen auch mehrfach Holocaust-Überlebende gewesen.
In der Ukraine konterte unter anderem Oberrabiner Mosche Asman Putins Aussagen: «Ich persönlich kann sagen, dass ich stolz auf Präsident Selenskyj bin, dass er nicht geflohen ist und alles für den Schutz des ukrainischen Volkes tut», sagte Asman der Agentur Unian. «Ich denke, dass die ganze Welt stolz auf ihn ist.»
Kremlchef dementiert ukrainische Erfolge an der Front
Berichte über ukrainische Erfolge an der Front dementierte Putin. «An keinem Abschnitt haben sie ihre Ziele erreicht», behauptete der Kremlchef. Die Ukraine, die sich seit fast 16 Monaten gegen einen russischen Angriffskrieg verteidigt, meldet hingegen seit einigen Tagen kleinere Geländegewinne bei ihrer laufenden Gegenoffensive. Auch internationale Beobachter bescheinigen dem angegriffenen Land erste Erfolge bei der Befreiung besetzter Gebiete.
Einmal mehr kritisierte der Präsident auch westliche Waffenlieferungen an die angegriffene Ukraine. «Natürlich sehen wir, dass die westlichen Länder maximale Anstrengungen unternehmen, damit Russland (…) eine Niederlage auf dem Schlachtfeld erleidet», sagte er. Doch die russische Rüstungsindustrie habe ihre Produktion im Vergleich zum Vorjahr bereits mehr als verdoppelt, sagte er. Die angebliche Produktionssteigerung ließ sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Für Beachtung in kritischen russischen Medien sorgte unterdessen vor allem die Aussage Putins zu Patriot-Flugabwehrsystemen, die Russlands Armee angeblich zerstört habe. Insgesamt seien fünf Patriots im Gebiet Kiew außer Gefecht gesetzt worden, behauptete Putin – nur: Die Ukraine hat gerade mal zwei solcher Systeme von westlichen Partnern geliefert bekommen, eines davon aus Deutschland.
Ebenfalls Aufmerksamkeit erregten Äußerungen Putins zu möglichen Lieferungen von F-16-Kampfjets an die Ukraine: Sollten die Maschinen außerhalb der Ukraine stationiert sein, dann werde die russische Seite «schauen, wie und wo wir diese Mittel zerstören», sagte der Kremlchef. Wenig später ruderte sein Sprecher Dmitri Peskow zurück und erklärte, Russland werde die Jets im Falle ihrer Lieferung auf ukrainischem Staatsgebiet angreifen.
Putin-Aussage zu Abrüstung sorgt für Aufsehen
Putin äußerte sich auch zur nuklearen Rüstungskontrolle. «Wir haben mehr solcher Waffen als die Nato-Länder», sagte er in St. Petersburg. «Sie wissen das und drängen uns die ganze Zeit dazu, dass wir Gespräche über Reduzierungen anfangen», meinte der Kremlchef weiter – und fügte dann hinzu: «Scheiß drauf, verstehen Sie, wie man bei uns im Volk sagt.»
Kremlsprecher Peskow musste später auch diese Aussagen vor Journalisten erklären – und relativierte sie. «Russland ist bereit, Verhandlungen zu führen», versicherte er.
Unter dem Eindruck seines Angriffskriegs gegen die Ukraine hatte Russland Anfang des Jahres unter internationalem Protest das letzte große Abkommen über atomare Rüstungskontrolle für ausgesetzt erklärt: den «New Start»-Vertrag mit den USA. Dieser begrenzt die Atomwaffenarsenale beider Länder und regelt Inspektionen. Anfang Juni dann bot die US-Regierung Russland und auch China Gespräche über nukleare Rüstungskontrolle «ohne Vorbedingungen» an. Anstatt zu warten, bis alle bilateralen Differenzen beigelegt seien, sei man bereit, Gespräche aufzunehmen, damit keine neuen Konflikte entstünden, hieß es aus Washington.