Genf (dpa) – Die Zahl der Krisen weltweit wächst und damit auch die der Flüchtlinge: Aktuell sind so viele Menschen aus ihrer Heimat vertrieben wie noch nie zuvor, wie das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR am Mittwoch in Genf berichtete. Rund 110 Millionen Menschen seien auf der Flucht, zwei Drittel davon in ihren Heimatländern, ein Drittel überwiegend in Nachbarländern. Im Juni 2022 lag die Zahl bei rund 100 Millionen.
Fluchtgründe sind nach UNHCR-Angaben Krieg, Gewalt und Verfolgung. Viele Krisen würden durch die Folgen des Klimawandels verschärft, etwa, wenn im Streit über schwindende Ressourcen alte Spannungen neu aufbrechen. Das UNHCR verlangt, Fluchtursachen besser zu bekämpfen. Die Zahlen seien verheerend, sagte der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi. «Es ist ein Armutszeugnis für den Zustand unserer Welt.»
Die Zahlen
Im vergangenen Jahr (Stichtag Ende 2022) waren drei Viertel aller Flüchtlinge, die Grenzen überquert hatten, in Ländern mit niedrigen oder mittleren Einkommen, so das UNHCR in seinem Bericht «Global Trends». Es sei falsch, wenn behauptet werde, alle strebten in die reichen Länder nach Europa oder Nordamerika, sagte Grandi. «Ausgerechnet die ärmsten Länder zeigen die größte Aufnahmebereitschaft und tragen die größte Last», teilte Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) in Berlin mit. «Darum müssen wir solidarisch sein mit den Aufnahmegemeinden.» Seit 2014 habe die Bundesregierung 300 Projekte in 78 Partnerländern umgesetzt, um Menschen auf der Flucht und ihre Aufnahmeländer zu unterstützen.
Die Gesamtzahl der Vertriebenen lag zum Stichtag Ende 2022 bei 108,4 Millionen, fast 20 Millionen höher als ein Jahr davor. 2023 kamen unter anderem die Vertriebenen im Sudan dazu. Die meisten Flüchtlinge und Schutzbedürftigen hatte 2022 die Türkei aufgenommen (3,6 Millionen), gefolgt vom Iran und Kolumbien. Dahinter lag Deutschland mit 2,1 Millionen. Die meisten Flüchtlinge stammen aus Syrien (6,5 Millionen), der Ukraine und Afghanistan (je 5,7 Millionen).
Was zu erwarten ist
Die Sudankrise mache ihm Sorge, sagte Grandi. Dort tobt seit Mitte April ein Machtkampf zwischen Präsident und ehemaligem Vizepräsident. Mehr als 1,4 Millionen Menschen wurden innerhalb der Grenzen neu vertrieben, zusätzlich zu den 3,7 Millionen, die schon vor der Krise ihre Heimatorte verlassen mussten. Hunderttausende flohen zudem bereits in Nachbarländer. Grandi warnte, dass der Osten des Landes als Terrain von Menschenschmugglern bekannt sei. Wenn Recht und Ordnung im Sudan nicht bald wieder hergestellt würden, könnten diese Schmuggler Sudanesen auf die Fluchtrouten «nach Libyen und weiter» locken. Von Libyen starten viele Flüchtlingsboote Richtung Europa.
Nach einer Umfrage der Kinderhilfsorganisation World Vision in 18 Ländern verschlechterte sich die Lage von Vertriebenen und ihren Kindern. Gründe seien etwa die Folgen des Klimawandels, Auswirkungen der Pandemie und die Inflation. Die Zahl der Familien, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr selbstständig bestreiten können, habe sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. «Wir sind äußerst besorgt über die besonders hohe Anzahl von Frühverheiratungen in Afghanistan und Niger», sagte Kristina Kreuzer von World Vision.
Lösungen
Grandi kritisierte, dass kaum politische Lösungen für Konflikte mehr gefunden würden. Für 5,7 Millionen im eigenen Land Vertriebene endete die Flucht im vergangenen Jahr zwar, aber nur 340 000 Flüchtlinge kehrten aus dem Ausland in ihre Heimat zurück. Grandi sagte aber, zumindest könne der Druck auf überlastete Asylbehörden gemindert werden. Wenn reichere Länder mehr legale Wege der Einwanderung für Migranten böten, würden weniger von ihnen Asyl beantragen. Viele Asylbewerber werden abgelehnt, weil Asyl und ähnlicher Schutz Menschen vorbehalten ist, die vor Krieg, Konflikten, Verfolgung und Gewalt fliehen.
So sieht es auch die Innen- und Europapolitikerin der FDP-Bundestagsfraktion, Ann-Veruschka Jurisch. «Die Koalition hat sich vorgenommen, irreguläre Migration reduzieren und reguläre Migration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen», teilte sie mit. Das Fachkräfteinwanderungsgesetz, das verhandelt werde, solle ein entscheidender Schritt werden.
Legale Migrationswege würden auch die lebensgefährlichen Fluchtreisen reduzieren. Erst am Mittwoch wurde bekannt, dass vor Griechenland Dutzende Migranten ertranken, weil ihr Boot gekentert war.
Die geplante Reform des EU-Asylwesens
Grandi lobte, dass dieses Thema ebenso wie der Umgang mit legaler Migration in der EU endlich vorankomme. Die EU will Asylsuchende, die aus einem Staat anreisen, der als relativ sicher gilt, künftig nach dem Grenzübertritt in einer Aufnahmeeinrichtung unter haftähnlichen Bedingungen festhalten. Nach einer zügigen Prüfung der Gesuche sollen Abgelehnte umgehend zurückgeschickt werden. Nicht alles sei perfekt, meinte der Italiener, aber wenigstens habe sich die EU überhaupt auf etwas geeinigt und es sei Bewegung beim Thema Asyl und Migration. Er fügte aber hinzu: «Wir sind klar der Ansicht, dass Asylsuchende nicht in Gefängnisse gesteckt werden sollten. Asyl zu beantragen, ist keine Straftat.»