Berlin/Düsseldorf/Hannover (dpa) – Demütigen, anschreien, zum Essen zwingen: Kindertagesstätten sollten eigentlich sichere Orte sein. Sind sie aber nicht immer. Das geht aus einer Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter Aufsichtsbehörden hervor. Demnach gab es 2022 in einigen Bundesländern mehr Meldungen von pädagogischem Fehlverhalten. Experten beklagten indes eine lückenhafte Erfassung solcher Fälle. Der Kinderschutzbund forderte mehr Sensibilität für das Thema.
Die Zahlen aus ausgewählten Ländern zeigen, wie verbreitet das Problem ist: Aus Berliner Kitas wurden im Vorjahr 83 Fälle von grenzverletzendem Verhalten gegenüber Kindern gemeldet – die höchste Zahl der vergangenen vier Jahre. Dazu zählten auch Verdachtsfälle, teilte die Bildungsverwaltung mit. In Brandenburg wurden dem Bildungsministerium 82 Verdachtsfälle von übergriffigem Verhalten von Beschäftigten gegenüber Kindern bekannt. 2021 waren es noch 56 Fälle.
Mehr Fälle in etlichen Bundesländern
Auch Niedersachsen verzeichnete einen Anstieg. 2022 gingen dem Kultusministerium zufolge 338 Meldungen von Verdacht auf ein Fehlverhalten von Beschäftigten ein, ein Jahr zuvor waren es noch 223. Dabei sei es etwa ums Schlagen, Kneifen, Zerren, sexuelle oder verbale Übergriffe sowie um Zwangsfütterung gegangen.
Im Rheinland in Nordrhein-Westfalen listeten die Behörden 2022 insgesamt 271 Fälle von pädagogischem Fehlverhalten auf, 46 mehr als im Jahr davor. Auch in Bayern gab es einer Umfrage des Bayerischen Rundfunks von Ende Dezember zufolge einen Anstieg – ebenso in Baden-Württemberg, wo laut «Stuttgarter Zeitung» und «Stuttgarter Nachrichten» 2021 die Zahl der Verdachtsfälle von körperlicher, seelischer, sexueller Gewalt oder Verletzungen der Aufsichtspflicht um 20 Prozent auf 330 gestiegen war.
Es ist schwierig, das Ausmaß der Gewalt zu erfassen
Wie es bundesweit aussieht, lässt sich nicht so leicht beantworten. «Wir verfügen leider nicht über Zahlen, weil viel zu wenig geforscht wird», bedauerte die Vize-Vorsitzende des Kinderschutzbundes, Martina Huxoll-von Ahn. Das sächsische Sozialministerium teilte zum Beispiel auf dpa-Anfrage mit, für das Landesjugendamt bestehe keine Verpflichtung zur statistischen Erfassung von Meldungen etwa darüber, wie oft das Kindeswohl in Sachsens Kitas gefährdet war.
Das macht es Experten schwer, das Ausmaß von Gewalt zu erfassen. «Zu vermuten ist, statt Prügel oder Ohrfeigen wird psychische Gewalt angewendet – also Kinder niederbrüllen, erniedrigen, sozial isolieren», so Huxoll-von Ahn. Seit dem Jahr 2000 steht im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB), dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. Seither sei die Akzeptanz von Körperstrafen deutlich zurückgegangen, aber nicht ganz verschwunden, sagte die Fachfrau. Seither ist sicherlich auch die Sensibilität für das Thema eine höhere.
Um Übergriffe vorzubeugen, sind Kindergärten bundesweit gesetzlich dazu verpflichtet, Gewaltschutzkonzepte zu haben. Darin steht etwa, wie Gewalt verhindert oder Fälle aufgearbeitet werden können. Diese Konzepte seien noch nicht flächendeckend umgesetzt worden, sagte der Berliner Kinderschutzexperte Jörg Maywald, der Honorarprofessor für Sozial- und Bildungswissenschaften an der Fachhochschule Potsdam ist. «Wir sind mitten in dem Prozess. Das ist von Bundesland zu Bundesland und auch von Träger zu Träger unterschiedlich.» Es gebe hierbei einen bunten Flickenteppich.
Wichtig ist der Blick von außen auf die Arbeit
Solche Konzepte erachtet Steffi Arnold als sinnvoll. Die Geschäftsführerin dreier Kindergärten im Berliner Stadtbezirk Pankow befasst sich mit dem Thema Gewalt und beteiligt sich an dem Projekt «Mutausbruch» der Bundesarbeitsgemeinschaft Mehr Sicherheit für Kinder. «Seit zehn Jahren im Team haben wir uns gefragt: Machen wir wirklich alles richtig und ermöglichen die Partizipation aller?» Arnold geht es dabei auch um einen Blick von außen auf die Arbeit in ihren «Kinderläden». Es gab bereits eine Hospitation im Kita-Betrieb.
Immer wieder landen Fälle von Fehlverhalten auch vor Gericht. In Gelsenkirchen müssen sich derzeit zwei Tagesmütter verantworten, weil in der Mini-Kita ein Junge erstickte. Laut Anklage sollen sie ihre Aufsichtspflicht verletzt haben. In Köln steht ein ehemaliger Babysitter und Kita-Betreuer wegen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs vor Gericht.
Eklatanter Fachkräftemangel in den Kitas
Im Januar war der Fall einer Potsdamer Kita bekannt geworden. Dort gab es Vorwürfe gegen zwei Erzieherinnen, Kinder eingesperrt zu haben. Den Erzieherinnen sei gekündigt worden, sagte der Vorstandsvorsitzende der Hoffbauer-Stiftung, Frank Hohn, der Deutschen Presse-Agentur. Sie sollen Kinder auch gezwungen haben, auf die Toilette zu gehen. Was sind die Ursachen für solche Fälle?
Aus der Berliner Bildungsverwaltung hieß es dazu: «Die Gründe für übergriffiges Verhalten sind uns im Detail nicht bekannt.» Der Kinderschutzbund sieht eine Ursache in der Überforderung des Personals. «In Kitas haben wir das Problem eines eklatanten Fachkräftemangels. Solche Stresssituationen können Formen von Gewalt verschärfen», sagt Huxoll-von Ahn. Eine Bertelsmann-Studie vom Herbst 2022 hatte den Personalmangel als alarmierend bezeichnet.
Der Kinderschutzexperte Maywald sieht das Personalproblem nicht als alleinigen Grund: «Wir haben schlecht ausgestattete Kitas, die hervorragende Arbeit leisten, andererseits relativ gut ausgestattete, die eine weniger gute Arbeit machen.» Das Kultusministerium in Hannover verwies als weiteren Grund auf eine Reform vom Juni 2021, die neue Meldeverpflichtungen für Kitas vorsieht. Deutschlandweit gab es im vergangenen Frühjahr mehr als 59 000 Kindergärten.
Doch was kann getan werden, damit es künftig weniger Fälle von Gewalt gibt? Der Kinderschutzbund forderte, Fachkräfte und Eltern müssten mehr sensibilisiert werden. Maywald sagte: «Wenn wir davon ausgehen, dass in jeder Kita, an jedem Tag Fehlverhalten vorkommt, dann darf das nicht tabuisiert werden, unter den Teppich gekehrt werden, sondern muss offensiv und frühzeitig angesprochen werden.»